Liebe Leserin, lieber Leser,
bis zum Heiligen Abend möchte ich Ihnen jeden Tag eine Tür zu meinem neuen Roman eröffnen. “Eine letzte Mail” wird er heißen: eine Liebesgeschichte, die in Paris ihren Ausgang nimmt und nach vielen Jahren und Verwirrungen auf einem anderen Kontinent endet … Ich wünsche Ihnen viel Freude bei der Lektüre. Ihr maximilian dorner
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1. Türchen: Mail von Juliane an Leander vom 26. April 1999
Lieber Leander,
vor meinem Fenster blüht ein Kirschbaum, genau wie vor deiner winzigen Wohnung im Marais. Allerdings ist er nur halb so groß, denn Tübingen ist auch nur halb so groß wie Paris … Einen Zweig habe ich abgerissen, der liegt nun auf den beiden Opernkarten.
Dass wir auf dem Brunnenrand im Garten des Palais Royal saßen, ist noch nicht einmal zwei Tage her. Hinter dir spielten ein paar ältere Männer unter den Bäumen Boules. Eigentlich haben sie gar nicht gespielt, sondern sich nur gestritten. Einer hat den anderen ununterbrochen mit dem Zeigefinger auf die Brust getippt. Aber dann ist ein kleiner Junge durch das Spielfeld gelaufen und hat die Kugeln mit dem Fuß weggekickt. Weißt du, was die Männer gemacht haben? Sie haben gelacht. Einfach nur gelacht. Am liebsten hätte ich sie alle umarmt! Du hast währenddessen die Zeitung durchgeblättert. Plötzlich hast du meine Hand genommen und mich gefragt, ob ich schon einmal in der Oper gewesen wäre … Ich musste dich einfach küssen in dem Moment, wegen deiner Augen, wegen der Boules-Spieler, wegen Paris, wegen allem. Das war ein vollkommener Moment.
Seit halb sieben am Morgen bin ich wieder zu Hause. Dennoch habe ich das Gefühl, das Wichtigste in Paris gelassen zu haben. Vielleicht steckt es hinter dem gelben Vorhang mit den Mottenlöchern neben deinem Bett. Oder in deinem nach Lavendel duftenden Kleiderschrank. Oder zwischen den neuen Schuhen und dem Klarinettenkoffer. Oder bist es einfach nur du? Was hast du nur mit mir gemacht!
Es war mutig von dir, dass du trotz meiner überstürzten Abreise mit zum Bahnhof gekommen bist. Obwohl es den Abschied noch schwerer machte. Dass du mir jedoch nur die Hand gegeben hast, tat weh! Und dann bist du gegangen. – Hast du dich noch einmal umgedreht? Ich war zu feige. Zu feige zu bleiben, zu feige zu gehen. Wahrscheinlich hast du inzwischen das Bett frisch bezogen und die lila Zahnbürste in den Müll geworfen.
Drei Minuten nach der Abfahrt hielt der Zug mit einer Vollbremsung. Mehrere Schaffner versammelten sich vor meinem Abteil. Einer machte für den Lokführer eine Ansage: „Notbremse in Wagen 117“. Ich dachte schon, dass man mich festnehmen würde. Oder hätte ich die Notbremse viel eher ziehen müssen, noch vor der zweiten Nacht? Bevor du mich gefragt hast, ob ich meine Doktorarbeit an deinem wackligen Küchentisch zu Ende schreiben möchte? Bevor ich gesehen habe, wie du manchmal im Schlaf zusammenzuckst? Bevor du genau die richtige Zeit gezögert hast nach der Frage des Kellners, ob wir ein Paar wären, und dann mit roten Backen genickt hast, nachdem er sich schon lange den nächsten Gästen zugewandt hatte ….
Als der Zug nach einer Viertelstunde wieder anfuhr, wollte ich der Schaffnerin zurufen, dass wir in die falsche Richtung fahren! Stattdessen biss ich mir auf die Lippen.
Zweieinhalb Tage Paris. Wir haben exakt 4320 Minuten miteinander verbracht. Ich habe es gerade ausgerechnet, wobei ich unser Kennenlernens auf 14.21 festgelegt habe, weil die 21 meine Glückszahl ist. Also nicht einmal zweieinhalb Tage. Das ist nicht viel, auf ein Jahr gesehen. Auf ein ganzes Leben noch weniger. Und so kurz, dass ich mir nicht einmal vorstellen kann, was du an einem ganz normalen Montag machst.
Im Zug habe ich beschlossen, nie mehr nach Paris zu fahren, um wenigstens die Erinnerung an diese Zeit mit dir nicht zu gefährden. Also nie mehr durch die engen Straßen des Marais laufen, nie mehr im Garten des Palais Royal Boules-Spieler umarmen wollen, nie mehr Hand in Hand auf dem Balkon der Opéra Garnier stehen …
Alles ist so zerbrechlich, ich werde also gut darauf aufpassen müssen, auf diese zweieinhalb Tage. Wenigstens das verspreche ich dir.
Deine Juliane
P.S. Gerade ist eine Nachbarin mit ihrem Mann vor dem Haus stehen geblieben. Sie deutete auf den Kirschbaum und sagte: „Der Birnbaum wird auch bald eingehen, bei dem sauren Regen.“ – Du könntest eh nicht mit jemandem glücklich werden, der Birnen nicht von Kirschen unterscheiden kann. Damit tröste ich mich jetzt.