Adventskalender: 17. Türchen

Eine letzte Mail. Liebesroman von Maximilian Dorner. Erster Teil: Juliane hat sich während einer Reise nach Paris in Leander verliebt. Nach zweieinhalb Tagen ist sie überstürzt abgereist. Ein Jahr nach dem Kennenlernen beschreibt sie in zwei langen Mails, was damals vorgefallen ist …

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17. Türchen: Julianes Mail an den schweigenden Leander vom 23. April 2000. 2. Teil

Es war einmal eine junge Frau mit ein paar Freunden wegen einer weltberühmten Flamenco-Tänzerin in Paris. Als sie nach dem Kurs gerade die Seine überqueren wollte, lief vor ihr ein amerikanischer Rentner mit seiner Frau. Beide trugen gigantische Sonnenbrillen und „I love Paris“-T-shirts. Der heftig schnaufende ältere Herr blieb plötzlich abrupt stehen, daraufhin die Gattin und daraufhin die junge Frau. Mit großem Pathos rief er: „Never forget what has begun here.“

Im selben Augenblick bemerkte sie einen Kaugummi an ihrem Turnschuh und quiekte: „Shit!“

Vielleicht bist du inzwischen verheiratet und kannst aus eigener Erfahrung bestätigen, dass einen in einer Ehe vor allem der Shit vereint. Bei meinen Eltern ist es jedenfalls so.

Es war jedenfalls rührend mitanzusehen, wie der alte Mann seine Frau stützte, während sie auf einem Bein versuchte, den Kaugummi mit einem zusammengerollten Prospekt abzukratzen.

Wahrscheinlich wäre ich ohne diesen Zwischenfall für unsere Begegnung gar nicht bereit gewesen. Auch bin ich nicht wegen dir stehengeblieben, sondern wegen den beiden. Wenn überhaupt habe ich mir höchstens gedacht: noch einer von diesen hübschen Franzosen. Du hattest die Ärmel deines Pullovers so cool und lässig über dem Polo-Shirt verknotet, wie es ein Deutscher nie hinbekommen hätte.

In dem Moment erschien das chinesische Brautpaar, sie in weiß und er im Smoking. Trotz des blauen Himmels muss sie erbärmlich gefroren haben. Ihnen voraus der Fotograf, drei Kameras baumelten ihm um den Hals, oder waren es sogar mehr? Auf jeden Fall hat er ununterbrochen gebrabbelt, entweder zu sich oder dem eingeschüchterten Paar. Er postierte die beiden an dem Geländer und drückte ihnen ein eingeschweißtes Vorhängeschloss in die Hand. Sie sollten es für das Hochzeitsbild an dem Gitter festzuschließen und sich dabei verliebt in die Augen zu schauen. Wir stellten uns nebeneinander an das Geländer auf der anderen Seite, um aus dem Bild zu kommen.

Hat der Bräutigam als Erster probiert, die Verpackung mit den Zähnen aufzureißen? Wahrscheinlich er. Und dann sie. Und schlussendlich der unablässig brabbelnde Fotograf. Keiner hat es geschafft. Irgendwann riss ihm der Geduldsfaden. Und die beiden mussten das eingepackte Schloss in die Kamera halten. Und dabei lächeln. Sie haben alles artig mitgemacht.

In diesem Augenblick habe ich dich zum ersten Mal bewusst wahrgenommen. Deine funkelnden Augen, den Seidenschimmer deiner Haare, das Grinsen in den Mundwinkeln. – Ja, auch die Ringlosigkeit deiner Finger. Meine Freundin Bianca hat mir beigebracht, bei Männern erst auf die Hände und dann auf den Hintern zu sehen.