Adventskalender: 2. Türchen

Eine letzte Mail. Liebesroman von Maximilian Dorner. Erster Teil: Juliane (27) hat sich während einer Reise nach Paris in Leander verliebt. Da sie einen Freund hat, ist sie nach zweieinhalb Tagen überstürzt abgereist. Nun schreibt sie ihm Mails, eine nach der anderen …

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2. Türchen: Mail von Juliane an Leander vom 6. Mai 1999

Lieber Leander,

an der Briefmarke habe ich sofort erkannt, dass du den Brief geschrieben haben musst. Leider steht auf dem Umschlag keine Adresse. Und ich habe mir nur gemerkt, wie man von meinem Hotel zu deiner Wohnung findet, aber weder Straßenname noch -nummer. Deswegen diese Antwort per Mail, was mir eh lieber ist. Ich kommuniziere fast ausschließlich so.

Aber kann man ein Gedicht überhaupt beantworten? – Du bist so anders als die Männer hier, das würde sich keiner trauen. So etwas passt nach Paris, nicht nach Tübingen. Genau deswegen tue ich mir so schwer damit. Du musst zugeben, dass man auf ein Gedicht eigentlich nur mit einem Gedicht antworten dürfte. Und dazu habe ich keinerlei Begabung.

„dein in der teetasse sich spiegelndes gesicht“ – ganz ehrlich, ich trinke sonst nur Kaffee, hoffentlich habe ich nicht zu verschlafen in deine Tasse geschaut. Gerade merke ich, dass sich in Kaffee mit Milch gar nichts spiegelt. Ist wahrscheinlich besser so. Drei Zeilen später bin ich dann das Wasser in den „brunnen meiner tuilerien“. Widerspricht sich die Perspektive nicht ein wenig? Wasser kann sich doch schlecht in Tee spiegeln. Sicher sind das Spitzfindigkeiten, um die es dir gar nicht ging …

Eher hättest du aus dem Teesatz lesen sollen, dass ich für dich nicht mehr sein kann als eine seit dem zweiten Semester glücklich liierte Touristin auf der Durchreise. Eine, die – wie schon geschrieben – nicht einmal Birnen und Kirschen voneinander unterscheiden kann. Ich weiß nicht einmal, was besser für mich wäre: Paris oder Tübingen. Kirschen oder Birnen.

Es ist wohl alles falsch, was ich jetzt noch schreibe. Allein deshalb habe ich mich richtig entschieden. Mit uns das war falsch, von Anfang an.

Du weißt ja, dass ich nicht anders konnte, als die zweieinhalb Tage zu beenden. Niemand kann einfach aus seinem Leben verschwinden. Und jeder Betrug wird irgendwann schal.

Mach’s gut Leander! Du wirst bestimmt einmal ein erfolgreicher Diplomat und brauchst deine Unabhängigkeit. Häng dich nicht an jemand wie mich!

Und Danke, dass du den Brief trotzdem abgeschickt hast. Damit hast du zum zweiten Mal mehr Mut bewiesen als ich. Auch wenn trotzdem richtig bleibt, dass sich mein Wassergesicht nicht mehr in deiner Teetasse spiegelt.

Juliane