Adventskalender: 23. Türchen

Eine letzte Mail. Liebesroman von Maximilian Dorner. Erster Teil: Juliane hat sich während einer Reise nach Paris in Leander verliebt. Nach zweieinhalb Tagen ist sie überstürzt abgereist. Ein Jahr nach dem Kennenlernen beschreibt sie in zwei langen Mails, was damals vorgefallen ist …
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23. Türchen: Julianes zweiter Versuch in Worte zu fassen, wie sie ein Jahr zuvor Leander kenengelernt hat. Mail vom 25. April 2000, fünfter Teil

Danach standen wir lange mit einem umgeschlungenen Bettlaken am offenen Fenster. Neben dem blühenden Kirschbaum saß ein Obdachloser auf dem Bürgersteig. Eigentlich nicht direkt auf dem Bürgersteig, sondern auf zerlegten Kartons mit den Ausmaßen deines Zimmers. Auch er war nicht allein. Er umklammerte eine Rotweinflasche. Zwischen den Zügen rief er den vorbeigehenden Frauen eine anzügliche Bemerkung nach. Je leerer die Flasche, desto lauter. Du hast mir am Anfang noch alles übersetzt, später aber das Schlimmste weggelassen. Das habe ich durchaus bemerkt! Einiges konnte ich mir aus dem Spanischen erschließen, aber richtig fit bin ich in frauenfeindlichen Äußerungen nicht.
In diesen Minuten fiel meine Entscheidung abzureisen. Das schlechte Gewissen wurde nicht mehr vom Glück des Augenblicks verdeckt, sondern sogar noch verstärkt. Ich fand den Mut nicht, es dir zu sagen. Und deswegen habe ich mich doppelt schlecht gefühlt. Allen gegenüber. Wahrscheinlich tat ich mir am meisten selbst leid. Seitdem denke ich: Wenn ich dich nach dem Tee gebeten hätte, etwas auf der Klarinette zu spielen, statt mit mir zu schlafen, wäre alles anders gelaufen. Glaube ich heute.
Stattdessen zogen wir uns an und liefen der Sonne entgegen, bis zum Friedhof Père Lachaise. Erst die Rue de Rivoli hoch, die auf einmal Rue Saint-Antoine heißt, vorbei an meinem Hotel in der Nähe der Bastille. (Ich weiß das nur, weil ein Stadtplan von Paris vor mir liegt, den ich heute Vormittag in der Unibibliothek besorgt habe.)
In einem Bestattungsunternehmen am Boulevard de Charonne war in einem Schaufenster ein reduzierter Jesus ausgestellt. Am Handgelenk baumelte ihm ein Schildchen: „minus dreißig Prozent“ stand darauf. Du sagtest, dass du erst dann bereit wärst zu sterben, wenn er umsonst zu haben wäre.
Beim Friedhofstor kam eine uniformierte Frau aus ihrem Kabuff und öffnete für uns mit einem Lächeln die Autoschranke. Wir gingen als ganz normales Paar durch, das war das Schlimmste. Ich musste schlucken. Das war erst vorbei, als ich dir sagte, dass ich am Abend fahren würde. Von einer Sekunde auf die andere war alles anders. Als wäre ein Schalter umgelegt worden. Nur ein langgezogenes „ok“ kam, keine einzige Nachfrage. Nichts. Stattdessen ist in Sekundenbruchteilen die Luft zwischen uns gefroren, zu einer durchsichtigen, aber völlig undurchdringlichen Mauer. – Wahrscheinlich habe ich dir jetzt erst gesagt, dass ich liiert war. Zu spät und zu früh gleichzeitig.
Wenn ich ehrlich bin, wirklich ehrlich, war ich enttäuscht, dass du mich nicht umstimmen wolltest. Andererseits, hätte ich mich umstimmen lassen? Ich weiß es nicht. Vielleicht. Für einen Tag. Aber dann hätten wir das Gleiche eben 24h später gehabt. – Aber du hast nicht versucht, mich umzustimmen.
Wie gut, dass du dich hinter einem zerfledderten Lonely Planet verstecken konntest. Es sah so aus, als wärest du froh, alle fünf Meter nachschauen zu können, welchen Weg wir nehmen mussten. Schließlich standen wir schweigend vor dem Grab von Edith Piaf. Dutzende Blumen lagen rund um den schwarzen Steinsarkophag.
Dass du dich wie ein gekreuzigter Gentleman benommen hast, machte mich traurig und wütend. Das Schlimmste war dein Angebot, mich am späten Nachmittag zum Bahnhof zu bringen. Jede Sekunde hast du mich spüren lassen, wer von uns beiden Schuld an unserem Unglück hatte. Ohne ein einziges Wort darüber zu verlieren. Schuld hatte ich: An dem Sonnenschein, an dem blauen Himmel, an den anderen Paaren, die uns umarmt entgegen kamen. Du hast der Frau an der Friedhofspforte sogar grüßend zugenickt. Obwohl alles vorbei war. Obwohl ich alles zerstört hatte.
Heute weiß ich, dass ich nicht wegen meinem Ex-Freund gefahren bin, sondern weil ich das alles nicht ausgehalten habe. Ich dachte, dass das nur falsch sein kann. Ich bin vor dem Glück weggelaufen. Dass mir so etwas zustößt, habe ich für einen Irrtum gehalten. Deswegen habe ich selbst den größten begangen.

Touch me with your naked hand or touch me with your glove