Eine letzte Mail. Liebesroman von Maximilian Dorner. Erster Teil: Juliane (27) hat sich während einer Reise nach Paris in Leander verliebt. Da sie einen Freund hat, ist sie nach zweieinhalb Tagen überstürzt abgereist. Nun schreibt sie ihm Mails, eine nach der anderen …
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4. Türchen: Mail von Juliane an Leander vom 15. Mai 1999
Lieber Leander,
genau so fühlt es sich an, wenn man beim Tanzen aus dem Takt kommt. Sobald man darüber nachdenkt, ist es endgültig vorbei. Man schaut auf die anderen, und das macht es noch schlimmer. So geht es mir gerade. Ich habe erfolglos versucht, nach Paris wieder in den Takt zu kommen. Nun ist es zu spät. Das Stück ist zu Ende.
Beim Abendessen ist mir bei meinem Freund eine verräterische Bemerkung herausgerutscht, ausgerechnet über die Pariser Oper. Darauf folgte eine fürchterliche Szene. Und ich hasse Szenen. Wenn es laut wird, denke ich an die Nachbarn und werde noch leiser. Was meinen Freund noch lauter werden lässt … Das Schlimmste war, dass ich dabei dauernd an deine Hand neben meiner auf dem Geländer der Seine-Brücke denken musste. Und an die beiden Chinesen mit dem eingeschweißten Vorhängeschloss in der Hand. Andere Bilder aus den zweieinhalb Tagen tauchten auf, die in dem Moment nichts verloren hatten: ein nackter Männerrücken, ein perfekt sitzendes weißes Hemd vor einem strahlend blauen Himmel (Ich habe übrigens noch nie einen Mann kennengelernt, der aus dem Bügeln eines Hemdes so eine Zeremonie macht wie du. Ich hätte dir stundenlang dabei zusehen können …) das Grab von Edith Piaf … ein verheultes Taschentuch im Zug …
Ich habe versucht zu erklären, dass das nichts mit meinem Leben hier zu tun hätte. Paris ist nicht Tübingen. Ich habe mich doch entschieden. Und die zweieinhalb Tage Glück nicht für mein Leben hier eingetauscht.
Warum schreibe ich das gerade dir? Wahrscheinlich, weil ich nichts mehr zu verlieren habe. Ich bin eine jammernde Frau. Etwas Jämmerlicheres gibt es eigentlich nicht. Und weil zwischen uns vom ersten Augenblick alles so selbstverständlich war. Es gab keine Diskussionen, in welches Lokal man geht oder ob man sich auf eine Parkbank setzt. Wir haben dieselben Dinge gesehen. Dieselben Menschen beobachtet. Dieselben Dinge komisch gefunden, das vor allem. Wir brauchten uns dann nur ansehen, und schon wusste ich, was du meinst.
Irgendwann wurde ich gefragt, ob ich meinen Betrug wenigstens bereuen würde. Hätte ich in dem Moment wenigstens den Mut gehabt zu lügen! Oder wenigstens zu schweigen. Was nützt einem Ehrlichkeit? Aber nein, ich habe den Kopf geschüttelt. Daraufhin bekam ich ein Glas Rotwein ins Gesicht. Nicht direkt ins Gesicht, sondern auf Hals und Bluse. Ich dachte in dem Moment: Leander würde so etwas nie machen. Oder doch?
Nun bin ich allein. Es musste ja so enden.
Diese Nacht nehme ich den Laptop mit ins Bett – und stolpere morgen früh garantiert über das Modem-Kabel. Vielleicht beweist du noch einmal Mut und schreibst mir, ich denke an dich, ganz fest,
Juliane