Eine letzte Mail. Liebesroman von Maximilian Dorner. Erster Teil: Juliane (27) hat sich während einer Reise nach Paris in Leander verliebt. Nach zweieinhalb Tagen ist sie überstürzt abgereist. Nun schreibt sie ihm Mails, eine nach der anderen …
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6. Türchen: Mail von Juliane an ihren Bruder vom 18. Juni 1999
Liebes Brüderchen,
vielen Dank für deine Glückwünsche auf dem AB. Im ersten Augenblick habe ich dich gar nicht erkannt in dem Rauschen und Knacken. Das mit diesen Handys scheint noch nicht ausgereift zu sein.
Ich fühle mich nicht nur ein Jahr älter, mein Leben ist aus dem Takt geraten und das ausgerechnet jetzt, wo ich mich ganz auf die Dissertation konzentrieren sollte. Wohin gehöre ich? Jeden Tag denke ich: Heute passiert was. – Und dann sitz ich doch nur den ganzen Tag in der Unibibliothek und träume von Paris. Nun gut, ich habe noch ein knappes Jahr, aber so langsam muss ich mir Gedanken darüber machen, was danach kommen soll. Langsam verstehe ich, warum unsere Eltern mich immer vor Kunstgeschichte gewarnt haben. So spannend das Studium war, nun bekomme ich die Quittung. Da hast du es mit deiner Informatik, über die ich immer gelächelt habe (ok, immer noch lächle), viel einfacher.
Bianca hat sich gestern einfach in den Zug gesetzt und ist nach Tübingen gekommen, um meinen Geburtstag mit mir zu verbringen. Auf sie ist eben Verlass. Kaum war sie zur Tür herein, war alles wie immer. Wir sind mit dem Fahrrad und einem vollen Picknickkorb nach Bebenhausen gefahren. Eigentlich wollten wir zu dritt fahren, aber der Herr hat in letzter Zeit wenig Interesse an meiner Gegenwart.
Wusstest du, dass der letzte Abt von dem Kloster mit ein paar Getreuen vertrieben wurde? Er streunerte einige Jahre mit ihnen durch die Lande, bis er am Ende seines Lebens allein wieder in Bebenhausen landete. Wie die Geschichte mit den zehn kleinen Negerlein. Ganz allein in seinem alten Kloster. Ich bewundere ihn, und gleichzeitig finde ich es unendlich traurig.
Klingt alles ein wenig nach midlife crisis. Dafür bin ich mit 27 zu jung, oder? Manche Gedanken muss ich einfach aufschreiben. Das E-Mail-Tippen hilft mir beim Denken. Erst wenn ich eine Mail geschrieben habe, weiß ich, wie es mir geht. Es hat etwas von Meditation. Andere zahlen dafür viel Geld.
Aber nun weiß ich noch gar nicht, wie es dir geht. Schreib mir, wovon du dich ernährst ohne mich! Jedenfalls bin ich ganz schön stolz auf dich, dass die Firma dich gleich übernommen hat. Auch wenn die Wohnung ohne dich und deine Pizzakartons ziemlich leer ist.
Liebe Grüße, auch an die Eltern. Du lässt dich bestimmt wieder von Mutti bekochen … dein gerade sehr hungriges
Schwesterchen