Neue und alte Risikogruppen

Jede Katastrophe bringt ihr eigenes Vokabular hervor. Worte sickern in die Umgangssprache ein, die man noch ein paar Monate zuvor nicht ohne. Zaudern ausgesprochen hätte: „Durchseuchung“ ist so eines. Oder ein anderes, auch gerade oft Verwendetes: „Risikogruppe“. Beides klingt gefährlich und nach Bildzeitung. So hätte ich es noch vor ein paar Monaten beschrieben: marktschreierisch, sensationsheischend und ein bisschen unappetitlich ist das. Beide Worte kann man sich gut in dicken schwarzen Buchstaben vorstellen. Man sieht sofort eine orange-farbige, nervös blinkende Lampe, die alles in ein surreal fiebriges Licht taucht. Aber es scheint so, als wäre der Alarmismus dieses Mal wirklich angebracht. Deshalb unterdrücke ich den Autoren-Impuls, ein anderes Wort zu finden, mir zumindest sprachlich nichts aufzwingen zu lassen. „Risikogruppe“ also.

„Du gehörst doch zur Risikogruppe, stehst du schon unter Quarantäne?“ – Ich wurde das selbst vor der Zeit des Rückzugs ins Klösterliche mit Blick auf meinen Rollstuhl öfter gefragt, und fühlte mich immer überfragt. Risiko, für wen? Bin ich eines für andere? Oder doch für mich selbst? Doch keiner weiß genau, was und wer mit „Risikogruppe“ gemeint ist. Irgendwie alle, die überdurchschnittlich oft Hilfe brauchen. Ich habe trotzdem immer erstmal bedächtig mit dem Kopf genickt und irgendwas in den Bart gebrummelt. Kann schon sein, ich bleib halt daheim, dann ist ein Risiko von der Straße.

Menschen mit Behinderung sind es gewohnt, ein Leben mit erhöhtem zu führen. Bis ich am Morgen angezogen bin, habe ich ein Dutzend brenzliger Prüfungen zu bestehen: vom Bett in den Rollstuhl, auf die Toilette und wieder zurück …

In diesen wild entschleunigten Zeiten hat man für Internetrecherchen ja noch mehr Zeit als sonst. Und da es mich doch interessiert hat, ob ich offiziell zu einer Risikogruppe gehöre, habe ich das mal gegoogelt. Und bin verdächtig oft auf dieselben Textbausteine gestoßen. Die Quelle ließ sich leicht finden: Auf der Homepage des Robert-Koch-Institutes taucht die Ur-Beschreibung der Risikogruppe auf.

Soll ich mich nun freuen oder es bedauern: Ich gehöre jedenfalls keiner an, nicht wie viele andere Menschen mit Behinderung, die neben anderen Einschränkungen auch ein vermindertes Lungenvolumen haben oder aus sonstigen Gründen auf ihr Immunsystem aufpassen müssen.

Heute gehöre ich nicht dazu. Aber das kann sich schlagartig ändern. Man gehört ja ununterbrochen zu einer anderen Risikogruppe. Heute sind es die mit angeschlagener Lunge oder Immunsystem, morgen wieder die Schwangeren über vierzig. Das Risiko lässt sich nicht dauerhaft vertreiben.

Lasst uns also versuchen, heil durch diese Krise mit ihren aktuellen Risiken zu kommen. Die nächste, die Wirtschaftskrise, steht ja schon vor der Tür. Und dann wird es wieder neue Risikogruppen geben. Alle werden in der nächsten Zeit einmal zu einer gehören. Selbst das hat etwas fast schon Tröstliches. Selbst die Krisengewinnler, wenn sie alt genug werden, werden spätestens dann eine sein. Auch das gehört dazu, zu dem großen Risiko, das man Leben nennt.