Wie lange das Banner wohl schon an der Fassade zwischen zwei Fenstern hängt? Erst diese Tage habe ich es bei meinen täglichen Spaziergängen durch das Viertel vor einer Wohnung unter dem Dach entdeckt. Ein wenig verloren wirkt es und darauf steht in Großbuchstaben: LEAVE NO ONE BEHIND. Lasst niemanden zurück!
Auch so ein Satz, den zur Zeit alle abnicken – und weitergehen. Aber was heißt das schon, niemanden zurückzulassen? Vielleicht möchten manche Menschen langsamer gehen als andere, auch das ist zu akzeptieren. Auch wenn sie alleine gelassen werden möchten, auch das gehört dazu. Hilfe ablehnen zu dürfen. Und wer ist dieser No One? Dieser niemand?
Vor etwa zwei Jahren schrieb ich an meinem Buch über Inklusion, und war wie viele Aktivisten ein wenig entnervt von diesem Begriff, der doch eigentlich für einen Aufbruch stehen sollte. Und nun in einer Sackgasse feststeckte. Ich war auf der Suche nach einem neuen. Bis ich auf „Solidarität“ kam. Ein Freund sagte damals: „Solidarität, das klingt gut, und ich sage dir, dieser Begriff wird noch richtig in Mode kommen. Ich spüre es schon.” – Und eine Pandemie weiter, hängt er mahnend an der Fassade: Leave no one behind.
Solidarität heißt vielleicht genau das: Rücksicht nehmen, erst einmal nachdenken, was man selbst will und was man nicht möchte. Solidarität mit sich selbst also und dann den anderen, ohne sie zu überschütten mit dem, was man selbst für angebracht hält. Solidarität braucht Fingerspitzengefühl, Feingefühl, sehr viel Liebe zu sich selbst und zu den anderen. Sich nicht mit schnellen Antworten zufrieden zu geben. Nur so gelingt es, niemanden zu vergessen.
Vielleicht würde ich auf das Plakat gerade eher schreiben: Horche, was dir andere zu sagen haben! – Wer jemandem zuhört, lässt sie oder ihn nicht allein, sondern bleibt in Verbindung. Und darum geht es doch, niemanden hängen zu lassen. Leave no one behind.
Ich stelle mir vor, wie dieses Banner hergestellt wurde. Wie es aufgehängt wurde, mindestens von zwei Menschen. Die Einwände: Kann man das machen? Ist das nicht zu gefährlich? Jetzt hängt es schief. Du hättest es straffer ziehen sollen. Der Knoten hält nie. Die Freude nach getaner Arbeit, das Bier, das man sich jetzt verdient hat … All dies fühlt sich gut an.
LEAVE NO ONE BEHIND. Ich nehme das mit nach Hause. Und die wohl spannendste Frage: Wie lange dieses Plakat da wohl noch hängen wird?