Ein längst überfälliger Zwischenruf
Seit Anfang März wird hauptsächlich von Kunstschaffenden selbst beschworen, dass Kunst und Kultur systemrelevant seien. Seitdem warte ich darauf, dass dies einmal hinterfragt wird. Doch die meisten nicken es ab – oder es interessiert sie einfach nicht. Dabei wäre doch genau das gerade nötig: scheinbare Wahrheiten kreativ in Frage zu stellen, behauptete Selbstverständlichkeiten anzuzweifeln, umzudichten. Wo bleibt der Widerspruch, der elementar zur Kunst gehört?
Dass Kunst und Kultur nicht systemrelevant sind, beweist sich doch gerade bitter in der Realität da draußen: Es findet gerade kaum eine statt. Museen, Theater, Kinos, all das ist geschlossen. Und die Gesellschaft bricht deswegen nicht zusammen, sondern knirscht und wackelt und ächzt aus anderen Gründen. (Höchstens wird sie vermisst, worüber man sich stillschweigend und laut freuen sollte.) Die große schweigende, lamentierende, verzweifelnde, apathische Mehrheit kam schon vorher und kommt auch jetzt ohne Kunst zurecht. Es wäre an der Zeit, dies anzuerkennen. – Auch und gerade, wenn man es nicht richtig findet und ändern möchte. Aber nicht, indem man darauf störrisch beharrt.
Kunst war nie dazu da, das System zu stabilisieren. Sie wollte sich nie vereinnahmen lassen, sondern die scheinbare Wirklichkeit in Frage stellen. Andere Möglichkeiten aufzeigen, Sehnsuchtsräume öffnen, etwas Anderes neben der Banalität des Alltäglichen schaffen. Alles, nur bitte nicht systemrelevant werden. Die Behauptung der eigenen Unverzichtbarkeit hat etwas Infantiles, Anbiederndes. Und macht sie zum Teil des Getriebes. Nein, meine lieben Kunstschaffenden. Ich möchte nicht relevant sein. ich möchte etwas zutiefst Überflüssiges machen. Kunst ist Luxus des Menschseins. Und zwar der sinnigste, den es gibt.
Seit ich denken kann, mache ich nichts anderes als Kunst. Und ich kann nichts anderes. ich kann kein Brot backen und keine Spritze setzen, nicht einmal einen Platten im Fahrradreifen reparieren. – Nur darüber schreiben, doch deswegen kann man mit dem Fahrrad auch nicht wieder fahren. Ich bin zu nichts zu gebrauchen, was systemrelevant ist. Und das ist gut so. Ich will es so. Deswegen mache ich das, deswegen habe ich mich gegen ein Medizin- oder Jurastudium entschieden, Deswegen habe ich keine Ausbildung gemacht, sondern schreibe oder inszeniere oder plane Projekte, die nie etwas werden. Weil sie nichts werden müssen. Und wenn dann mal etwas gelingt, ein Text, freue ich mich wie ein Kind.
Ja, ich möchte in einer Gesellschaft leben, die sich etwas Verzichtbares leistet. Genau das macht uns Menschen zu Menschen. Dass es nicht nur darum geht zu überleben, sich fortzupflanzen und irgendwann zu sterben, sondern dass wir etwas schaffen, sei es eine Kreidezeichnung an den Höhlenwand oder eine Symphonie. Verzichtbar. Überflüssig. Nicht systemrelevant, sondern ein sinnstiftendes Wunder.
21.4. Ebenso nötiger Nachtrag: Dass die Kunst diese innere Freiheit braucht, und verteidigen muss, etwas nicht Verwertbares zu erschaffen, ist elementar. Dass sie wiederum dafür äussere Freiheit braucht, ist eine andere Debatte.